Interview: Schule neu denken!

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Statt Hilflosigkeit - Schule neu denken!

Maria Lodjn, Schulleiterin an einer HTS in Wien, berichtet über den alltäglichen Umgang mit Kindern, die arm sind.
2019-05-06Teresa Arrieta

Maria Lodjn, Sie unterrichten seit 20 Jahren an einer Wiener NMS, einer so genannten Brennpunktschule, wie viele SchülerInnen sind armutsgefährdet?

Mindestens ein Viertel können wohl als arm bezeichnet werden, aber auch die anderen sind keineswegs gut gestellt. Es sind Kinder, die in ständiger Unsicherheit leben und kaum zur Ruhe kommen können. Sie sind oft verschlossen, in der Defensive, im Unterricht weniger aufnahmefähig. Der Geldmangel wirkt sich auf die Seele aus.

Diese Kinder können weniger partizipieren?

Wenn wir Geld für Aktivitäten einsammeln, zögern sie die Zahlungen hinaus, auch fünf bis zehn Euro sind bereits ein Problem. Projektwochen, die um die 300 EUR kosten, kommen gar nicht in Frage. Die Kinder sind beschämt und cachieren ihre Armut. Sie sagen, dass es sie nicht interessiert, mitzufahren. Aber man merkt ihnen an, dass sie enttäuscht sind.

Welche Kleidung tragen sie?

Cool aussehende Sportschuhe, aber immer dasselbe Paar und dieselben Leibchen, bis sie ihnen vom Leib fallen. Aber sie haben immer ein gutes Handy, das gehört dazu. Neue Schulhefte und Geodreiecke biete ich ihnen aus unserem Schulfundus an. Das Buffet hat in unserer Schule schließen müssen, weil zu wenig Umsatz gemacht wurde. Meine SchülerInnen sind traurig, wenn Schulferien sind, weil die Schule der einzige Ort ist, wo ihnen etwas geboten wird und wo sie Sicherheit verspüren. Die Familien leben meist in engen Wohnungen, in angespannter Atmosphäre und unternehmen wenig, aus Geldmangel.

Welche Bildungschancen haben diese Jugendlichen?

Eigentlich gar keine. Sie haben keine Chance auf einen regulären Lehrplatz und die neue Regierung hat nun bei der sogenannten überbetrieblichen Lehre (Anm: staatlich geschaffene und finanzierte Lehrstellen in Modellbetrieben) auch eingespart. Sie haben kaum Chancen, ins Gymnasium aufzusteigen, dazu bräuchten sie Unterstützung von zu Hause. Die Eltern können aber keine Nachhilfe und teuren Schulbehelfe bezahlen und ohne das geht es heute nicht an den AHS. Gymnasien nehmen in der Zwischenzeit auch kaum mehr Kinder aus NMS. Die Eltern dieser Kinder arbeiten sehr viel und verdienen sehr wenig: als Schichtarbeiter, als Putzfrauen, am Bau oder im Einzelhandel, oft in Leiharbeit. Ihren Kindern ist ein ähnlicher Weg vorgegeben.

Was muss sich ändern, damit diese Jugendlichen ihr Leben selbst gestalten können?

Schule muss neu gedacht werden. Es müssen kostenlose Ganztagsschulen eingeführt werden, bei denen auch das Mittagessen umsonst ist. Es darf keine Hausübungen geben, der Schulerfolg darf nicht am Geldbeutel der Eltern hängen. Derzeit werden die Nachhilfeinstitute reich. In den Schulen muss der Konkurrenzkampf aufhören: um bessere Kleidung, schönere Handys, bessere Noten. Statt dessen sollten Klassen sich als Gemeinschaften begreifen und auch den schwächsten Schüler mitnehmen - das wäre wahrhaft inklusiver Unterricht. Schulen müssen demokratischer werden. Das bedeutet, dass Lehrer sich mit ihrem autoritären Gehabe auseinandersetzen und die Kinder mitentscheiden lassen, was sie lernen möchten. Derzeit vermitteln wir reines Faktenwissen, das ist aber in Zeiten der Digitalisierung nicht mehr gefragt. Es braucht auch eine gemeinsame Unterstufe.

Was wünschen Sie sich hier und jetzt für einen wirkungsvolleren Unterricht in den Wiener NMS?

Wir bräuchten kleinere Klassen mit mehr LehrerInnen. Wir brauchen mehr SchulsozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen. Wenn Unterrichtsminister Faßmann sagt, er weiß nicht, was Sozialarbeiter in der Schule verloren haben, dann ist das heftig. Ich wünsche mir für unsere Jugendlichen echte Entwicklungschancen. Damit sie jenen Weg gehen können, den sie sich wünschen, und nicht jenen, den sie müssen.